Stichwort: H Y Klemm 1 Örtlicher Einsatz
Hessenaue
Fahrzeuge: 99/83, 99/84Ein Verkehrunfall mit eingeklemmter Person wurde von der Zentralen Leitstelle Groß-Gerau nach Eintreffen in der Wache gemeldet. Ein PKW war von der Strasse abgekommen und war gegen einen Baum gefahren. Die Feuerwehren Hessenaue, Geinsheim und Trebur setzten hydraulisches Rettungsgerät ein um den Fahrer aus dem Fahrzeug zu befreien. Nach notärztlicher Versorgung wurde der Patient mit dem Rettungshubschrauber in ein Klinikum nach Frankfurt geflogen. Der RTW 99/84 stand auf der Wache in Bereitstellung und musste nicht mehr zum Einsatz ausrücken.
Fahranfänger verliert Kontrolle über sein Fahrzeug
HESSENAUE(ml). Es gibt Einsätze, an die man schon zwei Tage später nicht mehr denkt. Und es gibt solche, die einem für lange Zeit immer wieder im Kopf herumgehen werden. Am 12.08.2004 gegen 11:00 Uhr alarmierte die Leitstelle Feuerwehr, Rettungs- dienst und das DRK Trebur zu einem Verkehrsunfall in Hessenaue. Am Ortsausgang war ein Fahrzeug auf Höhe der Friedhofsmauer gegen einen Baum geprallt. Der Fahrer war eingeklemmt. Schon auf der Anfahrt drängten sich mir Bilder aus den vorangegangenen Übungen auf, die sich teilweise um die Rettung im Fahrzeug eingeschlossener Personen gedreht hatten. Doch wie so oft ist im Ernstfall alles ganz anders als in einer Übung.
Zum einen ist da der Unterschied zwischen einem fabrikneuen Opel Astra, der einfach nur auf die Seite gekippt wurde und in dem eine geschminkte Verletztendarstellerin auf ihre Rettung wartet, und einem Kadett E, der frontal gegen einen Baum prallte und dessen Konsole dichter an den Fahrersitz gedrückt wurde, als meine Hand breit ist. "Wo war denn da noch Platz für die Beine?" habe ich mich dann auch gefragt, als ich das Fahrzeug - nach der Befreiung des Fahrers - zum ersten Mal aus der Nähe sah.
Zum anderen waren da die Angehörigen, die man von dem Unfall unterrichtet hatte, und die kurz vor bzw. kurz nach uns an der Einsatzstelle eingetroffen waren. Dieser Faktor kommt bei Übungen meist zu kurz. Wenn er nicht völlig fehlt, dann wird er naturgemäß mangels eigener Erfahrung viel harmloser dargestellt. Zu dritt waren wir im Rettungswagen angerückt, und während Sönke Lase, Bereitschaftsleiter und im täglichen Berufsalltag Wachleiter der Rettungswache Groß-Gerau, die Kollegen vom Rettungsdienst bei der Behandlung des Fahrers unterstützte, kümmerten wir uns um die Angehörigen. Zunächst war nur der ältere Bruder vor Ort, kurz nach uns trafen die Mutter, der kleine Bruder und eine Freundin ein. Anfangs bestand unsere Aufgabe vor allem darin, gemeinsam mit KollegInnen der Polizei die Angehörigen davon zu überzeugen, sich abseits des Unfallfahrzeuges zu halten. Die Einsatzkräfte am Fahrzeug sollten - im Interesse des Verletzten - möglichst störungsfrei arbeiten können. Aber auch dem Verletzten selbst wäre nicht geholfen, wenn die Angst und panikartige Sorge seiner Verwandten zu ihm durchdrängen. Und letztendlich mußte man auch die Angehörigen vor sich selbst schützen, verhindern, daß sie "zu viel" sehen, daß sie zusätzlich zum traumatischen Ereignis selbst auch noch die Schreckensbilder zu verarbeiten haben. Später dann galt es, zu beruhigen, behutsam Auskunft zu geben über Dinge, die man gefahrlos sagen konnte, und dabei tunlichst eigene Vermutungen zu vermeiden. Ein schmaler Grat zwischen dem Wunsch, keine falschen Hoffnungen zu wecken, aber andererseits auch nicht unbegründet Angst zu schüren. Schnell wurde klar, daß die Mutter eine Arbeitskollegin von Sönke und mir ist, und mit einem mal fehlte ein weiteres Stück der professionellen Distanz, die man normalerweise zwischen sich und die Einsatzereignisse zu bringen versucht. Man kommt ins Gespräch, versucht mit einfachen, vorsichtigen Fragen vom Geschehen abzulenken, und erfährt dabei Dinge über die Person im Fahrzeug. Sie bekommt einen Namen, eine Geschichte, ein Gesicht. Der Führerschein lag nur kurze Zeit zurück, aber der Junge - ein Automechanikerlehrling - fuhr gerne schnell. Ein Fahrsicherheitstraining beim ADAC - Geschenk der Eltern zum Führerschein - wollte er "später mal" absolvieren, "im Herbst, nicht jetzt". "Keine Sorge, das macht er noch", versuchte ich zu trösten, zu beruhigen.
Kaum vorstellbar, wie lange dabei ein paar Minuten werden können, vor allem, nachdem der junge Mann aus dem Fahrzeug gerettet und in den Rettungswagen verlegt worden war. Ein Hubschrauber wurde angefordert, aber was passiert in der Zwischenzeit hinter den Milchglasscheiben des Rettungsfahrzeuges? Zeitungsreporter stellten dieselbe Frage. "Was dauert denn hier so lange, warum wird der Fahrer nicht schnell ins Krankenhaus gebracht?"
Weil es Zeit kostet, ihn zu entkleiden, möglichst gründlich auf Verletzungen zu untersuchen, Diagnoseapparate zur Messung von Puls, Herztätigkeit, Blutdruck und Sauerstoffsättigung anzuschließen, Infusionen anzuhängen, Medikamente zu verabreichen. Den Patienten in einen Zustand zu versetzen, in dem er transportfähig ist. Und weil die Zeit für uns außerhalb des Fahrzeuges sich dehnt wie Kaugummi, weil uns Minuten wie Stunden vorkommen können. Der Reporter verstand die Erklärung, auch den Angehörigen hat sie wohl ein kleines bißchen geholfen.
Nachdem der Hubschrauber gelandet war und der Verletzte umgelagert und in den Hubschrauber verladen war, hatte es fast den Anschein, als ginge es jetzt bergauf. Alles, was an Ort und Stelle getan werden konnte, war getan, jetzt lag die Verantwortung in anderen Händen. Die Klinik war in Reichweite, die Möglichkeiten dort besser. Und die Angehörigen beschäftigten sich der Frage, wer jetzt mit wem ins Krankenhaus fährt.
Ein Anruf am nächsten Morgen brachte die traurige Nachricht, daß der Junge im Operationssaal verstorben war. Die starken Einblutungen ins Bein, Folge der zusammengequetschen Fahrerkabine, hatten es unmöglich gemacht, einen meßbaren Blutdruck aufzubauen, der Kreislauf konnte nicht wieder in Gang gebracht werden.
Dieser Bericht ist anders als unsere übrigen Einsatzberichte. Ich habe zwei Tage überlegt, ob ich ihn schreiben soll oder nicht. Es ist ein persönlicher Bericht geworden, kein sachlicher, distanzierter, und anders als alle übrigen schreibe ich ihn nicht, um die Arbeit des DRK transparenter zu machen, sondern in der Hoffnung, daß möglichst viele junge Führerscheinanfänger diese Zeilen lesen und etwas daraus lernen. Es gab, soweit das an der Einsatzstelle festzustellen war, keine äußeren Einflüsse, die den Unfall erklärten. Der junge Mann hatte einfach die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und konnte nicht angemessen reagieren. Er war mit ziemlicher Sicherheit zu schnell und auf jeden Fall zu unerfahren. Und - das ist besonders wichtig, weil ich mich an meine eigene Fahrweise in diesem Alter und an das Gefühl jugendlichen Draufgängertums und eine gewisse "Ist doch egal"-Stimmung noch viel zu gut erinnere - es ging dabei nicht nur um ihn. Seine Eltern, zwei Brüder, Freunde - alle müssen in irgendeiner Weise damit leben und fertigwerden. Das leichte Zittern meiner Finger wird in den nächsten Tagen nachlassen - in der Familie des jungen Mannes aber wird immer jemand fehlen.
Vielleicht hätte ich selbst, als ich früher in meinen Kadett C stieg und losbretterte, ein paar Sekunden daran verschwenden sollen, daß zu Hause Eltern, Geschwister und meine Freundin warten. Vielleicht sollten zur Führerscheinausbildung auch Gespräche mit Angehörigen solcher Unfallopfer gehören.